Ein Leben mit der Sucht auf der Überholspur

Seit ich ein Kind war, bin ich süchtig nach Salzgebäck und Süßigkeiten. Es fing an, als meine Mutter aufhörte, schmackhaft zu kochen. Sie kochte nur dann essbar, wenn wir Gäste hatten oder welche erwarteten. Dann gab sie sich richtig Mühe, zerkochte das Gemüse nicht und würzte es sogar derart, dass es mir schmeckte.

Ansonsten kriegte ich irgendwas Aufgewärmtes, was nach Pappe oder noch ekliger schmeckte, mit jeder Menge Knoblauch und nicht wahrnehmbarer Menge Salz. Einfach nur so widerlich, dass ich es nicht essen wollte. Da Fleisch ja einen Eigengeschmack hat, schmeckte mir Fleisch, und Fisch wurde meist auch so paniert, dass ich selbst die harte Kruste essen wollte, denn die schmeckte am besten.

Ich sollte nun aber hauptsächlich das Gemüse essen. Da konnte ich nur eins tun: Mit hungrigem Magen behaupten, ich sei satt, und später heimlich auf Entdeckungstour durch Haus oder Garten gehen, mal sehen welche Früchte reif waren und ob meine Mutter was zu Naschen versteckt hatte.

Wenn ja, schmeckte das immerhin so gut, dass ich mich später noch satt essen konnte. Da hatte ich zwar keinen Hunger zum Abendbrot, aber das war ja mit den Eltern sowieso kein Vergnügen. Die Essgeräusche zu hören und zu sehen, wie mein Vater mit vollem Mund sprach, fand ich zu eklig, um länger als nötig dabei zu sein. Dazu nutzten meine Eltern die Mahlzeiten, um mich irgendwelchen unangenehmen Verhören zu unterziehen. Zum Beispiel, warum ich meine Pausenbrote weg schmiss. Wie sollte ich erklären, dass ich mich dick und hässlich fand, und nicht auch noch im Beisein der Klassenkameraden essen wollte?

Im Grunde fand ich Essen immer eher eklig. Und das, was es meinem Körper antut, erst recht. Um überhaupt essen zu können, musste es schmecken. Wenn meine Mutter aber kochte, schmeckte es mir nicht. Hätte ich Interesse daran, schmackhaft zu kochen, würde ich es tun. Wie aber soll das gehen? Kochen muss man im Grunde nur Fleisch. Gemüse hat mehr Vitamine, wenn es roh ist. Braten muss man auch nur Fleisch, es sei denn, man benutzt den Backofen oder die Mikrowelle. Die Friteuse verleiht dem Ganzen noch mehr Fett. Das Gleiche gilt für Fisch, und am besten man isst den ohne Panade – aber was schreibe ich das den ganzen Diäterfahrenen, die hier lesen?

Obstsalat muss auch nicht immer mit Zitronensaft angemacht werden. Jeder andere Fruchtsaft tut es auch, und aus Beeren kann man ebenfalls einen leckeren Salat machen. Das müssen nicht immer Äpfel und Bananen sein. Meine Mutter machte immer nur Orangen, Zitronensaft mit jeder Menge Zucker, Äpfel und Bananen. Sie meinte, nur mit Zitronensaft könnte man verhindern, dass Äpfel und Bananen braun werden. Das stimmt nicht. Es kommt darauf an, wie lange sie der Luft ausgesetzt sind. Wenn sie früh genug in den Saft kommen, geht das auch ohne Zucker.

Das Exotischste, was es bei uns an Früchten gab, waren Orangen, Pfirsiche und Kiwis. Ananas gab es nur, wenn ich selbst eine kaufte und aufschnitt.

So schlitterte ich in eine Art Sucht. Als ich später eine eigene Wohnung hatte, versuchte ich, mir das Kochen beizubringen. Ich entdeckte, dass Kartoffeln auch schmecken können, und eine Gemüsepfanne lecker sein kann. Mehr wollte ich gar nicht wissen. Kam ich fix und alle von der Arbeit heim, wollte ich nicht noch in der Kochnische stehen. Zumal die Sicherung schnell raus sprang, wenn nebenbei der Fernseher lief und eine Herdplatte an war.

Also kaufte ich mir die Näschereien, die es zuhause lange nur heimlich gegeben hatte, musste nichts essen, was man zerkochen oder in Ei wälzen und panieren sollte, bevor es in Butter gebraten wurde. Ich schenkte mir meine geliebte Freizeit auf meine Art und Weise: Fernseher, Buch und was zu Naschen. So sah lange Zeit mein Feierabend aus.

Zwischendurch habe ich figurbedingt Diäten gehalten. Bis zu 5 Monate hielt ich durch, meistens aber nur 3 Monate. Dann brauchte ich wieder meine Fressalien. In 3 bis 5 Monaten nahm ich 15 bis 20 kg ab. Die ich allerdings in 5-6 Wochen Nachgeben wieder drauf hatte. So fuhr die Sucht mein Leben lang auf der Überholspur.

Inzwischen habe ich durch Medikamente und Jojo-Effekt den Stoffwechsel derart lahm gelegt, dass ich innerhalb von 2 Jahren Suchtmittelabstinenz 6 kg abgenommen hatte. Weil ich aber 6 Wochen lang rückfällig war, sind diese 6 kg inzwischen wieder drauf. Ich habe mir nichts mehr vorgenommen. Ich habe resigniert und akzeptiere notgedrungen mein immenses Übergewicht, immer nur von der Angst gebremst, wieder den Jojo-Effekt zu kassieren, 6 kg abzunehmen und 12 kg zuzunehmen. Darum lasse ich der Sucht den Vorsprung und nehme es in Kauf, dass sie mir entgleitet, den Abstand zwischen mir und ihr vergrößert und es zulässt, dass sie mir immer kleiner erscheint, obwohl in Wirklichkeit die Kontrolle immer weiter in die Ferne rollt.

Das Ganze wiederholt sich seit der Schulzeit, z. B. in den Ferien, wenn man hier und dort eingeladen war, noch ein Stück Kuchen essen soll und doch noch einen Nachschlag nehmen muss. Dann die Zeit zuhause, wenn man nach dem fettigen Mittagessen mit dem Rad gefahren oder Sport auf dem Rasen gemacht hat. So sah ich auch mal sehr dick aus mit 12. Im Sommer sah ich besser aus, weil es ja Früchte im Garten gab.

Es wiederholte sich nach jeder Diät das selbe Drama: Ich hielt nicht mehr durch, wollte mir endlich wieder die schöne Freizeit gönnen, mit Buch und zu Naschen... Alles wieder drauf, also noch mal von vorn... Und wieder von vorn... und immer wieder, das Murmeltier grüßte monatlich, ansonsten war es wie mit dem Fernsehprogramm: Wiederholung der Wiederholung von Anno dazumal.

Ob ich nicht mal mit dem Gedanken gespielt habe, mir ein Magenband einzusetzen? Habe ich schon. Dann aber haben sie die Leute im Fernsehen gezeigt, bei denen das nach hinten losgegangen ist, die ständig Durchfall hatten, 5000 Kalorien essen mussten, wegen dem zu schnellen Stoffwechsel, und sie zeigten die Leute, die trotz Magenband nicht abnahmen. Weil sie Eis lutschten und Bonbons. Und dass sie zwar zu zweit essen gingen, aber nur eine Portion bestellten, weil sie nur 3 Bissen essen konnten.

Da habe ich mir gedacht: Das kann es auch nicht sein. Man hat ja Mineralstoffmangel und Vitaminmangel, wenn man nur Schokolade oder Eis lutscht. Gezwungen, fettarm zu essen, habe ich mich selbst schon. Und gezwungen, auf meine Lieblingsspeisen zu verzichten, habe ich mich auch. Inzwischen wider besseres Wissen, war ich davon überzeugt, meine Sucht im Griff zu haben und jederzeit wieder abnehmen zu können, wenn es nötig ist.

Oder, wenn es nötig sein wird, die Sucht ein für allemal zu besiegen, wie das Rauchen damals. Wie ein Alkoholiker seine Sucht bezwingt. Aber der hat es nicht leicht. Für Alkoholiker gibt es Tabletten, für Übergewichtige gibt es das Magenband. Aber welchen Preis zahlen wir dafür, dass wir versuchen, uns der Schlankheitswahngesellschaft anzupassen?

Warum es nicht ausnahmsweise machen wie bei Tele5 momentan: "Ich bin Tolerist." Weil wir Menschen tolerieren, die anders "funktionieren" als die DINA4-Menschen, die ihre Größe von der Stange kaufen, am Urlaubsort Strandmode probieren und Erfolg im Beruf haben, nur weil sie gut aussehen.