Die gruselige Begegnung mit der eigenen Art

Eben habe ich mein Spiegelbild beim Telefonieren gesehen. Und ich habe gedacht: „Wer ist diese fette alte Schachtel bloß? So sehe ich doch wohl nicht aus!“ Aber ich weiß, dass mein Spiegel nicht lügt, also: „Doch, das bist du“, hat er zu mir gesagt. Da war ich nicht nur beleidigt, sondern auch schockiert. Hamsterbacken, Vampirzähne, Säuferklüsen mit Tränensäcken, obwohl ich doch überhaupt nicht saufe! Und leichenblass, obwohl wir vor 5 Tagen aus dem Urlaub gekommen sind.

Die Haare sehen glanzlos und struppig aus, die Haut weiß und ungesund, die Zähne gelb und krumm. Die Augen grün wie Schmutzwasser, völlig eingefallen und stumpf, ein Doppelkinn verdeckt den kurzen Hals, das Fett quillt unter dem Shirt hervor, man sieht optisch keinen Unterschied zwischen den Brüsten und der Speckrolle darunter, die Oberschenkel sehen aus wie Elefantenbeine, und das nennt sich dann „Figur“?! Das nennt sich Daggi, das nennt sich „Mensch“?! Jesus Christus, was für eine hässliche Hexe! Und so laufe ich jeden Tag durch die Gegend!

Und so gehe ich in die Disco zum Tanzen, und so gehe ich einkaufen, so gehe ich zur Selbsthilfegruppe, so sehe ich aus, wenn ich in einem Schreckensmoment ins Schaufenster sehe und mich dort spiegele… Oh nein, das darf einfach nicht wahr sein. Aber „Doch“, sagt die innere Stimme, „Das bist du, und das ist alles wahr.“ Und ich stehe vor dem Spiegel und schreie: „Nein!“ Und mein Spiegelbild sieht mich an, und alles, die Gurken, die Speckrollen, die Monsterzähne und –haare, das leichenblasse Gesicht, es schreit zurück: „Doch!“ Während ich „nein“ geschrien habe, hat der Spiegel mir widersprochen.

 

So fahre ich zum Handarbeitsladen, kaufe eine Rolle Macrameegarn, oder eine Rolle Bastgarn, und gehe in den Wald. So suche ich einen stabilen Ast, hole die Leiter aus dem Auto, steige drauf und befestige das Seil. Am anderen Ende knüpfe ich die Schlinge, die Handarbeit habe ich aus dem großen Buch der Knoten, und lege sie mir um den Hals. Auf die Schlinge legt sich mein Doppelkinn. Ich stehe noch auf der Leiter und denke: „Weshalb konntest du nicht abnehmen?“ Und ich antworte mir selbst: „Weil ich meine Essgewohnheiten nicht ändern konnte.“ Und ich denke: „Wieso bist du nie braun geworden, egal wie schön die Sonne schien?“ Und antworte mir selbst: „Es kam nur zum Sonnenbrand, und außerdem erneuert sich die Haut jede Woche, so dass eine Bräune, ganz gleich welchen Grades, spätestens nach einer Woche verschwindet.“

Und ich denke: „Großmutter, warum habe ich so große Zähne?“ Und ich denke: „Großmutter, warum habe ich so große Brüste?“ Und ich denke: „Großmutter, was habe ich für große Speckrollen?“ Und ich denke: „Großmutter, warum habe ich so ein Doppelkinn?“  Und ich denke: „Großmutter, warum habe ich Haare an Armen und Beinen?“ Und ich denke: „Damit ich besser fressen kann?“ Und ich denke: „Damit ich schlechter hören kann?“ Weil der Blutdrucksenker als Nebenwirkung Ohrgeräusche hat. Und ich denke: „Damit ich schlechter aussehen kann?“ Und ich stoße die Leiter weg und falle auf den Waldboden, mein einer Knöchel ist mindestens gebrochen, die Schlinge hat sich nicht zugezogen, und ich denke: „Böser Wolf, bitte friss mich!“

 

Hier ist die Schöpfungsgeschichte in eigenen Bildern und einem individuellen, originellen Schluss: